„Es hilft nicht, zu sagen, Gewalt ist schlecht“, so Max Czollek – Kurator des Lyrikschwerpunkts am Freitagnachmittag – im einleitenden Gespräch mit Theresa Präauer über das Festivalthema „Fürsprache und Widerworte“ und zugleich als Widerwort zur Poetik seines Namensgebers Erich Fried. Lyrik solle vielmehr dem „ohrenbetäubenden Krach Raum geben“; Gedichte sollen Dinge in den Raum stellen, sich ihnen nähern, sie zeigen, unabhängig von einer unmittelbaren Bewertung als gut oder schlecht.
Dass das keineswegs als Verweigerung von Positionierung oder als Aufruf zu unpolitischer Lyrik gemeint ist, sollte jedem klar sein, der Czollek kennt. Er habe, so Czollek, Politik studiert, um Dichter zu werden. Die Idee der Autonomie des Kunstwerks, seiner Unabhängigkeit von der Gesellschaft, sei ein Post-45er-Phänomen. In Österreich sei es vielleicht früher, in Deutschland erst in jüngster Zeit so geworden, dass man sich fürs Politisch-Sein in der Lyrik endlich nicht mehr rechtfertigen müsse.
Wer sich als Dichter:in aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang herausnimmt, unterschlage die Gefährlichkeit und das manipulative Element von Kunst und das sei verantwortungslos. Wir sollten, so Czollek, die Idee der Heilung durch Kunst kritisch betrachten, uns von der Vorstellung verabschieden, es gelte bloß den richtigen Code zu finden und dann knacke man „den Safe der Gegenwart“. Kunst sei immer Teil der Fieberkurve der Gesellschaft.
Präauer spricht von Machtlosigkeit, die einen bisweilen überkommt, vom mit Worten kaum Fassbaren in der Welt (mit Blick auf die Ukraine) und stellt Czollek die Frage, die den roten Faden des ganzen Festivals bildet, nämlich die nach der Wirksamkeit von Literatur. Was solle das eigentlich heißen, Wirksamkeit, so Czollek. Ein Krieg bricht aus, einer kann darüber erstmal nichts als weinen, schreibt einen Gedichtzyklus und kommt wieder klar – auch das sei schon Wirksamkeit. In der Kunst sind wir fokusiert auf die Zukunft, auf das Bauen einer besseren Welt – Czollek hingegen plädiert dafür, eine Sprache für die Untröstlichkeit zu finden, eine Bestandsaufnahme der Abgründe zu wagen, ohne ständig etwas Gutes suchen zu müssen.
Auch er nimmt auf die Ukraine Bezug. In keinem anderen Land sei der die letzten zehn Jahre öfter gewesen und er wisse nicht, ob der die Leute, mit denen er dort zu tun hatte, jemals wieder sehen wird. Genau um diese endlose Traurigkeit gehe es – nicht erst jetzt, sondern schon seit Jahrhunderten – und um die Frage, was wir denn mit ihr machen. Er beantwortet die Frage selbst, kurz bevor er nahtlos die Moderation von Präauer übernimmt und in den Leseteil überleitet: Man kann sie als Antrieb funktionieren lassen; Wut und Trauer waren immer schon ein wichtiger Treibstoff.
Die Lesungen beginnen mit der deutschen Schriftstellerin Ronya Othman. Ihr im Vorjahr erschienener Gedichtband „die verbrechen“ kreist um das Schicksal jesidischer Kurden – wie ihr Vater – um die Zerstörung von Kulturgütern durch den IS, um das Vertriebenwerden und Staatenlosigkeit. Eines ihrer Gedichte handelt vom Mossuldamm, einem Staudamm nahe einer jesidischen Siedlung, in bröckeliger Karstlandschaft. Jeden Tag, so Othman, muss frischer Beton in den Damm, damit er nicht bricht – ein größenwahnsinniges Projekt Saddam Husseins, des Diktators, der dachte, über der Natur stehen zu können.
Mit dem explosiv und rasend schnell vorgetragenen Text „Ich weiß nicht, wie man Gedichte liest“ folgt die israelische Dichterin Adi Keissar, in der Haaretz als wichtigste Gegenwartslyrikerin Israels bezeichnet. In seiner Einleitung hebt Max Czollek die von ihr gegründete Lesebühne „Ars Poetica“ hervor, ein Name, in dem er eine Anspielung auf das hebräische Slangwort „Arsim“ ortet – eine abwertende Bezeichnung für Mizrachim, Juden mit arabischem Hintergrund, am ehesten mit dem deutschen „Prolet“ übersetzbar. Keissar selbst verortet sich unter den Mizrachim. Sie hat eine jemenitische Großmutter, die ausschließlich Jemeni sprach, Keissar selbst nur Hebräisch; von ihrer beider Unterhaltung ohne Worte handelt ihr Gedicht „Schwarz auf Schwarz“.
„Ich vertrete also Österreich“, so Barbara Juch, Mitglied der Wiener Burschenschaft Hysteria. Ihr Lyrik-Debüt erschien 2020 beim Verlagshaus Berlin. Juch beginnt mit einem Kärntnerlied, um über den Leistungssport („ich verstand damals nicht, wie langsam geschwommen werden konnte, wenn es doch darum ging, schnell zu schwimmen“) und „das Prinzip Burgtheater“, um am Ende wieder in Kärnten zu landen, diesem Land, das, weil es nicht am Meer liegt, selbst wie das Meer sein will: „tiefblau, unergründlich und eiskalt“
So wie zu Beginn Keissar liest auch der letzte in der Reihe in Originalsprache, während das Publikum die deutschen Übersetzungen auf Handouts mitlesen kann. Der in Berlin lebende und aus Brasilien stammende Ricardo Domeneck, mit dem ihn, so Czollek, unter allen Anwesenden schon die längste Bekanntschaft verbinde, entscheidet sich jedoch anlässlich des heutigen Datums – der 1.4.1964 war der Tag des Militärputsches in Brasilien – dazu, einen Text auszutauschen und liest stattdessen selbst die deutsche Fassung seines Gedichts „Isis Dias de Oliveira“ über eine der damals zahlreich verschwundenen und ermordeten Oppositionellen („Vielleicht würde sie sich gerade langweilen an einem Sonntag“) und u.a. den Text „Körpererde“, ein Gedicht über gemischte, indigene und europäische Nachkommenschaft – „Die geraden Linien der Väter, / erinnert, / und die schiefen Linien der Mütter, / vergessen.“