Guillermo Arriaga „Salvar el fuego“/“Das Feuer retten“

Guillermo Arriaga, das Zentrum der Aufmerksamkeit, – flankiert rechts und links von seiner Übersetzerin und vom Moderator Wolfgang Popp – sieht etwas abwesend aus, als würde er noch schnell eine Nachricht am Handy schreiben, während Popp gleich zu Beginn schon die erste Lesestelle ankündigt und jede Sekunde so weit sein wird, das Wort an ihn zu übergeben.

Nachdem Arriaga endlich aufschaut und sich beim Publikum für dessen Anwesenheit bedankt, wird klar, was er da unter dem Tisch getrieben hat – er hat mexikanische Pesos abgezählt, die er nun in einer Reihe am Tisch auflegt und den Anwesenden als Startkapital anbietet, falls sie Mexiko besuchen wollen. Das gelte jedoch nicht für seine anwesenden Landsleute, fügt er hinzu. Die Dichte an Exilmexikaner:innen bei der wahrscheinlich bestbesuchten Veranstaltung des ganzen Festivals dürfte tatsächlich hoch sein,  vor Beginn hörte man viel Spanisch in den Sitzreihen und ganz einem dummen lateinamerikanischen Klischee entsprechend ist die Stimmung – für Literaturhausverhältnisse – ausgesprochen locker und lebhaft. Ein Mann aus dem Publikum geht nach vorne und nimmt Arriagas Pesos unter Applaus an sich.

Ihr seid die, die Angst haben – so beginnt Arriaga aus seinem Roman „Salvar el fuego“/“Das Feuer retten“ zu lesen – Angst davor, dass man eure Töchter vergewaltigt, eure Söhne entführt. Unsere Töchter sind schon von Geburt an vergewaltigt, unsere Söhne von Geburt an entführt. Das „Manifest“, die von Wut, Angst, Blut, Fleisch und Exkrementen durchzogene erste Lesestelle über ein wütendes, schmutziges Wir und ein angsterfülltes rolextragendes Ihr endet schließlich mit einem Namen und einer Häftlingsnummer.

Der Häftling ist ein Mörder im größten Gefängnis Lateinamerikas, doch hochgebildet, ein Intellektueller. Kontrastiert ist seine Geschichte im Roman mit der Perspektive einer Choreografin. Ihr Mann ist Finanzmakler, alle ihre Freunde sind reich, sie ist unzufrieden. Die Kritik nennt ihre Arbeit perfekt, aber kalt.

Arriaga wuchs in einem der gewalttätigsten Viertel von Mexiko City auf, durch Verletzungen bei diversen Straßenkämpfen verlor er seinen Geruchssinn (leider rieche er immer noch Scheiße und Wildschweine, aber sonst fast nichts, so Arriaga). Anfang der 2000er landete er in Hollywood. Bekannt wurde der Autor durch seine Drehbücher für „21 Gramm“ und “Babel“. Es ist spürbar, dass heute die üblichen Grenzen ein wenig verschoben sind. Auch wenn der Autor im Mittelpunkt bleibt, so fühlt sich der Abend in einer für Literaturveranstaltungen ungewohnten Weise als Interaktion und Ping Pong zwischen Bühne und Publikums an.

So leistet beispielsweise die Übersetzerin ganze Arbeit, aber hat bisweilen sichtlich Mühe, Arriagas rasante spanische Ausführungen in Echtzeit auf Deutsch zu dolmetschen. Das zweisprachige Publikum unterstützt sie mit Zurufen einzelner Wörter. Arriaga will sichergehen, ob ihn auch alle verstehen. Da ist einer im Publikum, der weder Spanisch noch Deutsch spricht und fortan wird Arriaga alles Gesagte immer auch in Kurzform auf Englisch wiedergeben, direkt an ihn gerichtet, (doch lässt er sich dabei gerne von neuen Einfällen überholen, sodass seine englischen Kurzfassungen im Laufe des Abends eher zu eigenen Vorträgen werden, als dass sie bloße Zusammenfassung blieben).

Arriagas Drehbücher seien komplex, auf vielen verschiedenen Zeitebenen angesiedelt, so der Moderator Popp. Er stelle es sich schwer vor, sich da zurechtzufinden, den Überblick zu behalten. Ob er ein sehr strukturierter Arbeiter sei, fragt er. Er leide schon seit seiner Kindheit an einer ernsthaften Aufmerksamkeitsstörung, so Arriaga. „Es tut uns leid, ihnen mitteilen zu müssen, dass der IQ ihres Sohnes hart an der Idiotie schrammt“, so gibt er die Briefe seiner Lehrerin an seine Mutter wieder. Es sei ihm unmöglich, strukturiert zu arbeiten. Das Schreiben sei wie eine Sucht, er stürze hinein und wisse selbst nicht, wo es hingeht, genau diese Spannung halte ihn am Schreiben. Anstatt sich Wien anzusehen, habe er gestern im Hotelzimmer sein nächstes Buch fertiggestellt („and I’m scared to death that it’s gonna be bad“, fügt er hinzu).

Arriaga liest eine Passage seines Romans in Du-Form, die Rede eines Sohnes an den toten Vater – „das aschfarbene Stück Fleisch, in das du dich verwandelt hast.“ Der hat seine Kinder gequält, in einem Käfig baumeln lassen, tagelang, um sie abzuhärten, eine „bronzene Herrenrasse“ heranzuzüchten. Zum Dank tötet der Sohn den Vater, als der durch einen Schlaganfall beeinträchtigt ist, er zündet ihn an. Der Staatsanwalt hat Verständnis. Dass er dem Vater dankbar sei, sagt der Sohn, immerhin beschimpfe ihn niemand als „Scheiß Indio“.

Arriaga recherchiert nicht, er kümmert sich nicht um die reale Welt. Seine Bücher seien voller Unstimmigkeiten, so der Autor, aber das ist egal, solange sie einen packen. Wenn man sein Buch auf den Boden wirft, dann soll Leben herausspritzen. Auf den Titel seines Buches angesprochen wartet der Autor gar nicht auf die spanische Übersetzung der deutschen Frage, da er anhand der zwei, drei aufgeschnappten Wörter schon zu meinen glaubt, worum es geht, nämlich um den Surrealisten Cocteau. Ihm ist der Titel entlehnt. Wenn dein Haus brennt, was rettest du? Ich würde das Feuer retten, so zitiert Arriaga Cocteau.

Die reiche und behütete Choreografin Marina ist die einzige Figur, von der in Ich-Form erzählt wird. Der Autor hält daher in seiner letzten Lesestelle gleich nach dem ersten Satz inne und fragt, ob nicht eine der anwesenden spanischsprachigen Frauen lieber den Text vortragen wolle. Ohne Zögern kommt jemand auf die Bühne. Während die Exilmexikanerin liest, stehen Arriaga und Popp auf, weichen nach hinten von der Bühne und das wäre eigentlich ein schönes Schlussbild: Die Frau aus dem Publikum, die einen ihr fremden Text präsentiert, während der Autor dahinter immer weiter in den Bücherregalreihen verschwindet.

Doch leider erlaubt sich Popp noch eine Nachbemerkung: Zum Glück war‘s keine Sexszene. Es gebe 25 Seiten sehr guten Sex in seinem Buch, so Arriaga, gerade der Mann von Marina sei allerdings ein unglaublich schlechter Liebhaber, hygienisch, aseptisch. Es hätten sich – und das sei kein Scherz, versichert der Autor – eine ganze Reihe Frauen aufgrund seines Buches scheiden lassen und darauf sei er stolz, denn in der Wahl der Frauen zwischen Leidenschaft und Stabilität werde immer suggeriert, dass sie zweiteres zu wählen hätten. Oralsex während der Menstruation – dieses Detail aus dem Buch war ein großer Aufreger in Mexiko, so Arriaga am Ende, aber es gehe in all dem im Grunde überhaupt nicht um Sex, vielmehr um Intimität, gerade in diesem Bild: Ich nehme an, was immer von dir kommt.